Er galt als Chefplaner des Oktober-Massakers und erbitterter Feind Israels. Jetzt ist der Hamas-Chef getötet worden. Kommt neue Bewegung in die Gespräche über eine Waffenruhe und Geisel-Freilassungen?
Die Regierungen Israels und der USA sehen nach der Tötung des Hamas-Anführers Jihia al-Sinwar im Gazastreifen größere Chancen auf ein Ende des seit über einem Jahr andauernden Kriegs in Nahost. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete die Tötung des meistgesuchten islamistischen Terroristen der Region als Meilenstein. Ob sich die Hoffnungen auf eine Deeskalation nach Monaten des Kriegs mit der Hamas im Gazastreifen und der mit ihr verbündeten Hisbollah im Libanon wirklich erfüllen, erscheint aber fraglich.
„Dies ist der Beginn des Tags nach Hamas“, sagte Netanjahu in einer Videobotschaft an die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen. Die Menschen in dem abgeriegelten und vom Krieg schwer gezeichneten Küstengebiet sollten sich endlich befreien von der seit Jahren währenden „Unterdrückungsherrschaft“ der Hamas. Auch US-Präsident Joe Biden sagte, nun könne die Chance auf einen „Tag danach“ im Gazastreifen ohne die Islamisten an der Macht ergriffen werden. Für eine politische Lösung, die sowohl Israelis als auch Palästinensern eine bessere Zukunft biete, sei Sinwar ein Hindernis gewesen.
Wie das Militär den Terrorchef zur Strecke brachte
Sinwar galt als Drahtzieher des blutigen Überfalls auf Israel vom 7. Oktober 2023, bei dem islamistische Terroristen mehr als 1.200 Menschen töteten und weitere 250 in den Gazastreifen verschleppten. Direkt nach dem Massaker eröffneten Israels Armee und Geheimdienste die Jagd auf den Chefplaner. Lange Zeit soll sich Sinwar in dem weit verzweigten Tunnelsystem unter dem Gazastreifen versteckt haben – angeblich stets mit Geiseln als menschlicher Schutzschild umgeben.
Nach Angaben der israelischen Armee wurde Sinwar am Mittwoch in Rafah im südlichen Gazastreifen getötet. Nachdem er und zwei weitere Bewaffnete eher zufällig entdeckt worden sein sollen, habe sich Sinwar in einem Haus versteckt und ein israelischer Panzer eine Granate in das Gebäude gefeuert, berichtete die Zeitung „The Times of Israel“.
Das Militär veröffentliche Aufnahmen einer Drohne, die einen vermummten und von Staub bedeckten Mann – angeblich Sinwar – zeigen, der noch lebend in einem ausgebombten Gebäude auf einem Sessel sitzt. Als sich die Drohne nähert, wirft er mit einem Stock nach dem ferngesteuerten Fluggerät. An dieser Stelle bricht das Video ab. Israelische Medien veröffentlichten später Fotos von der zwischen Trümmern liegenden mutmaßlichen Leiche Sinwars mit schwersten Kopfverletzungen.
Wie Sinwar identifiziert wurde
Forensiker der israelischen Polizei stellten die Identität Sinwars laut Medienberichten anhand von Zahnstellung und Fingerabdrücken fest, außerdem wurde ein DNA-Test vorgenommen. Israel verfügt über die biometrischen Daten des Hamas-Chefs, weil er früher mehr als 20 Jahre in israelischen Gefängnissen gesessen hatte.
Der wegen seiner Brutalität im Umgang mit politischen Gegnern als „Schlächter von Chan Junis“ bekannte Islamist war einst wegen des Mordes an vier mutmaßlichen Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. 2011 kam er als einer von mehr als 1.000 palästinensischen Häftlingen im Austausch für den in Gaza festgehaltenen israelischen Soldaten Gilad Schalit frei.
Wer Sinwar an der Spitze der Hamas ersetzen könnte
Nach Sinwars Tod könnte Medienberichten zufolge nun sein jüngerer Bruder Mohammed an die Spitze der Terrororganisation rücken. Er war einer seiner engsten Vertrauten und ebenfalls an der Planung des Oktober-Massakers beteiligt. Außerdem organisierte er auch die Entführung des Soldaten Schalit, mit dem er seinen Bruder schließlich aus der israelischen Haft freipresste. Laut einem Bericht des israelischen Nachrichtenportals „Ynet“ hat Mohammed al-Sinwar bereits drei israelische Mordanschläge überlebt.
Was bedeutet Sinwars Tod für den Krieg in Nahost?
Nach dem Tod des Top-Terroristen wächst die Hoffnung, die veränderte Gemengelage für eine Entschärfung des überaus komplizierten Konflikts in Nahost nutzen zu können. US-Präsident Biden sagte, er habe nun mehr Hoffnung als zuvor, „aber es liegt noch viel Arbeit vor uns“. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte, Sinwars Tötung biete die Gelegenheit, die Rückkehr der Geiseln und ein Ende des Krieges zu erreichen. Der britische Premierminister Keir Starmer sagte, die Freilassung aller Geiseln, eine sofortige Waffenruhe und eine Erhöhung der humanitären Hilfe seien überfällig und notwendig, um Schritte in Richtung eines langfristigen, nachhaltigen Friedens im Nahen Osten zu machen.
Die mit der Hamas verbündete Hisbollah-Miliz im Libanon, die sich ebenfalls kriegerische Auseinandersetzungen mit Israel liefert und das Nachbarland seit Monaten mit Raketen beschießt, entschärfte ihre Rhetorik jedoch nicht – im Gegenteil. Nach der Kunde von Sinwars Tod kündigte sie „eine neue Phase der Eskalation“ an, die in den nächsten Tagen erkennbar werde. Israels Militär wiederum hat bislang keine Bereitschaft erkennen lassen, seine schweren Angriffe auf Ziele im Libanon zurückzufahren.
Neue Hoffnung für Geiseln?
Angehörige der Geisel forderten, die Situation nach dem Tode Sinwars zu nutzen und sich deutlich stärker um die Freilassung der Verschleppten zu bemühen. „Wir haben die Rechnung mit dem Massenmörder Sinwar beglichen, aber es wird keinen totalen Sieg geben, wenn wir ihre Leben nicht retten und sie nicht nach Hause holen“, zitierte die Zeitung „Jerusalem Post“ eine Sprecherin der Angehörigen. Netanjahu sagte in seiner Botschaft an die Geiselnehmer in Gaza: „Wer seine Waffen niederlegt und die Geiseln zurückgibt – dem werden wir es ermöglichen, herauszukommen und zu überleben.“ Gleichzeitig drohte er, man werde mit jedem, der den Geiseln Schaden zufüge, „die Rechnung begleichen“. (dpa)