Der Weg zur Schule oder in der Freizeit war für Kinder nie so sicher wie heute. Will man die Unfallzahlen noch weiter senken, muss man vor allem bei einem Fortbewegungsmittel ansetzen. Das Rekord-Tief hängt zudem mit einem Ausnahmefaktor zusammen.
Im vergangenen Jahr sind so wenige Kinder im Straßenverkehr verunglückt wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Im Schnitt wurde allerdings immer noch alle 24 Minuten ein Kind bei einem Verkehrsunfall verletzt oder getötet, wie das Statistische Bundesamt am Mittwoch in Wiesbaden berichtete.
49 Kinder verloren 2021 auf diese Weise ihr Leben. Die meisten Kinder, die 2021 im Straßenverkehr verunglückten, waren mit dem Fahrrad unterwegs.
Der Rückgang ist für den Leiter Unfallforschung der Versicherer, Siegfried Brockmann, „eine echte Erfolgsgeschichte“. Laut Statistik kamen im vergangenen Jahr rund 22 300 Kinder unter 15 Jahren bei Unfällen im Straßenverkehr zu Schaden. Das waren 0,8 Prozent weniger als im Vorjahr und so wenig wie noch nie seit der Deutschen Vereinigung. Anfang der 1990er Jahre hatte es mehr als 50 000 Verkehrsunfälle mit Kindern pro Jahr gegeben, über 500 Kinder ließen jährlich ihr Leben. 2020 starben in Deutschland 48 Kinder im Straßenverkehr – eines weniger als 2021.
Die Lockdowns verringerten die Unfallzahlen
Ein Grund für den Tiefststand dürfte die Corona-Pandemie gewesen sein: Schulen waren zeitweise geschlossen, ebenso wie viele Freizeiteinrichtungen. Familien waren weniger unterwegs und verreisten seltener. Dafür spricht, dass im Januar und Februar – während des zweiten Winter-Lockdowns – deutlich weniger Kinder betroffen waren als in den Vergleichsmonaten der Vorjahre.
Aufschlussreich ist ein Blick auf die Uhrzeiten, zu denen Kinder verunglücken: Kinder zwischen 6 und 14 verunglücken den Daten zufolge montags bis freitags besonders häufig zwischen 7 und 8 Uhr morgens. „Dies ist die übliche Zeit, zu der sich die Kinder auf dem Weg zur Schule befinden“, berichten die Statistiker. „In dieser Zeit wurden im vergangenen Jahr zwölf Prozent der verunglückten 17 500 Kinder im entsprechenden Alter im Straßenverkehr verletzt oder getötet.“
Die meisten Kinder, die 2021 im Straßenverkehr verunglückten, waren mit dem Fahrrad unterwegs – 38 Prozent der Unfallopfer des vergangenen Jahres waren Radfahrer. 33 Prozent der verunglückten Kinder saßen in einem Auto. 21 Prozent gingen zu Fuß, als der Unfall passierte. Interessant ist hier der Blick auf verschiedene Altersgruppen: Kinder im Vorschulalter sind oft im Auto mit Erwachsenen unterwegs – daher verunglücken sie hier am häufigsten. Schulkinder sind selbstständiger unterwegs – entsprechend steigt der Anteil der Radfahrer und Fußgänger unter den Verunglückten.
Zur „Erfolgsgeschichte“ haben für Unfallforscher Brockmann Verbesserungen bei alle Verkehrsarten beigetragen. Im Auto hätten spezielle Kindersitze das Mitfahren sicherer gemacht. Auf dem Fahrrad seien Kinder sicherer unterwegs, seit in Grundschulen ein Fahrrad-Führerschein gemacht wird. Wenn der Schulweg zu Fuß zu unsicher ist, würde Brockmann auch das viel gescholtene „Eltern-Taxi“ nicht verdammen.
Verkehrstraining in der Sekundarstufe
Um die Unfallzahlen bei Kleinkindern noch weiter zu senken, schlägt Brockmann vor, Einbauanleitungen für Kindersitze als Videos anzubieten. Wenn man die Unfallzahlen bei älteren Kindern weiter senken wolle, müsse man das Fahrrad in den Blick nehmen. „Leider gibt es bisher – nach dem Fahrradführerschein in der Grundschule – kein Angebot für ältere Schüler“, kritisiert Brockmann. Er schlägt ein Verkehrs- und Sicherheitstraining in der Sekundarstufe vor, idealerweise verpflichtend als Teil des Sportunterrichts.
Anders als Brockmann sieht der Fahrrad-Verband ADFC „eine erschreckende Bilanz“. Er fordert, „das Straßenverkehrsgesetz endlich so zu reformieren, dass nicht mehr das Auto, sondern die Schutzbedürftigkeit von Kindern und allen Menschen im Mittelpunkt steht“. Der Schulweg müsse für Kinder sicher zu bewältigen sein. „Für flächendeckende, sichere Schulwegenetze brauchen wir Schulstraßen und Wohngebiete ohne Durchgangsverkehr, Fahrradstraßen und Fahrradzonen sowie Tempo 30 als Standard innerorts.“
Ein weiterer Faktor ist der Wohnort: Die Statistiker sehen „große regionale Unterschiede“ bei den Unfällen. So verunglückten Kinder in Schleswig-Holstein relativ häufig bei Verkehrsunfällen: Auf 100 000 Kinder kamen dort 271 verunglückte Kinder. Auch in Mecklenburg-Vorpommern (262) und in Brandenburg (256) waren die Quoten vergleichsweise hoch. Am niedrigsten lagen die Werte in Baden-Württemberg mit 158 sowie in Rheinland-Pfalz mit 162 und in Hessen mit 163 Verunglückten je 100 000 Kinder.
Unfallforscher Brockmann kann sich die regionalen Unterschiede nicht wirklich erklären. Möglicherweise hänge es mit der Länge der Wege zusammen, die Kinder zur Schule zurücklegen müssen. In Ländern mit vielen großen Städten seien die Wege durchschnittlich kürzer und das statistische Unfallrisiko daher geringer.
Wichtig ist den Wiesbadener Statistikern: „Insgesamt haben Kinder aber im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil ein geringeres Unfallrisiko als andere Altersgruppen.“ Der Anteil der unter 15-Jährigen an allen Verunglückten bei Straßenverkehrsunfällen betrug 6,9 Prozent, obwohl diese Altersgruppe 13,8 Prozent der Bevölkerung stellt. „Der Kinderunfall ist längst vom Seniorenunfall abgelöst worden“, sagt Unfallforscher Brockmann. (dpa)