Nächste Stadt in der Ostukraine vor russischem Ansturm

Soldaten aus Nordkorea im Krieg gegen die Ukraine einzusetzen – das sei Russlands gutes Recht, lässt der Kreml im UN-Sicherheitsrat ausrichten. Anderen Staaten bereitet das große Sorgen.

Für den russischen Vormarsch in der Ostukraine ist die Industriestadt Pokrowsk das nächste wichtige Ziel. Der Feind stehe nur noch knapp sieben Kilometer vor der Stadt im Gebiet Donezk, die vor dem Krieg etwa 50.000 Einwohner hatte, sagte der Leiter der Stadtverwaltung, Serhij Dobrjak. Zurzeit harrten noch etwa 12.000 Menschen in Pokrowsk aus, darunter Kinder, auch wenn die Infrastruktur schon zu etwa 80 Prozent zerstört sei.

Am Frontabschnitt Pokrowsk seien am Mittwoch 28 russische Sturmangriffe gezählt worden, teilte der ukrainische Generalstab in Kiew mit. An der gesamten langen Front im Osten und Süden habe es 134 Gefechte gegeben.

In Washington, New York und Brüssel wird unterdessen darüber beraten, wie mit der Unterstützung der russischen Streitkräfte durch geschätzt 10.000 Soldaten aus Nordkorea umzugehen ist. Das US-Verteidigungsministerium zeigte sich „zunehmend besorgt“ wegen eines möglichen Einsatzes dieser Soldaten im Krieg gegen die Ukraine. Einige der nach Russland entsandten Nordkoreaner seien bereits näher an die Ukraine verlegt worden. Im UN-Sicherheitsrat rechtfertigte der russische Botschafter Wassili Nebensja die militärische Kooperation mit Nordkorea. Diese richte sich nicht gegen Dritte.

Ukrainische Verteidigung im Donbass bröckelt

Die Ukraine wehrt seit mehr als zweieinhalb Jahren eine großangelegte russische Invasion ab, die das Land wieder unter Moskauer Kontrolle bringen soll. Im Süden des Gebietes Donezk haben die ukrainischen Verteidiger in den vergangenen Tagen und Wochen mehrere Städte räumen müssen. Generalmajor Dmytro Martschenko sprach von einem Zusammenbruch der Front.

Pokrowsk wird seit langem beschossen. Die Zufahrt zur bedrohten Stadt sei zwar noch nicht komplett gesperrt, sagte Stadtchef Dobrjak. Doch einzelne Straßen würden abgeriegelt, um Verteidigungsanlagen zu bauen. Nahe Pokrowsk ging den Ukrainern zuletzt die Stadt Selydowe verloren. Damit können Angriffe auf Pokrowsk auch von Süden erfolgen.

Ebenso viel Druck üben die russischen Truppen nach ukrainischen Angaben am Frontabschnitt der Stadt Kurachowe aus. Auch dort habe es 28 Sturmangriffe gegeben, teilte das Militär mit. Es berichtete immer noch von Kämpfen um den vorgelagerten Ort Kurachiwka. Ukrainische Militärblogs sehen den Ort aber bereits unter russischer Kontrolle.

EU fordert Kursumkehr Nordkoreas

EU-Chefdiplomat Josep Borrell forderte von Nordkorea einen Stopp der Unterstützung für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Die Anwesenheit von mehreren Tausend Soldaten, die mit dem russischen Militär zusammenarbeiten, stellt einen eklatanten Verstoß gegen die UN-Charta und mehrere Resolutionen des UN-Sicherheitsrates dar“, sagte Borrell in Brüssel. Es sei ein einseitiger, feindlicher Akt Nordkoreas mit schwerwiegenden Folgen für den Frieden und die Sicherheit in Europa und weltweit. Borrell kündigte eine „angemessene Reaktion“ an. Er werde diese Woche zu Konsultationen mit Japan und Südkorea reisen.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte in Washington, er sei zunehmend besorgt, dass der Kreml die Nordkoreaner zur Unterstützung seiner Truppen in der Region Kursk an der Grenze zur Ukraine einsetzen wolle. „Wir sehen, dass sie russische Uniformen tragen und mit russischer Ausrüstung ausgestattet sind“, sagte er.

Russlands Präsident Wladimir Putin bestreitet die Anwesenheit nordkoreanischer Soldaten nicht. Er verweist darauf, dass auch die Ukraine auf Personal aus Nato-Staaten zurückgreife. Moskau beabsichtige, die Kooperation mit Nordkorea „in Zukunft weiterzuentwickeln, und niemand kann uns daran hindern“, sagte UN-Botschafter Nebensja in New York.

Russische Luftangriffe mit Raketen, Bomben und Drohnen

Seit den Abendstunden am Mittwoch greift Russland die Ukraine erneut aus der Luft an – mit Raketen, Gleitbomben und Kampfdrohnen. Allein auf die Hafenstadt Odessa und ihr Umland wurden nach regionalen Behördenangaben etwa zehn Raketen abgeschossen. Explosionen waren zu hören. Dies sei aber außerhalb der Stadt gewesen, sagte Bürgermeister Hennadij Truchanow. Über Odessa und seine Nachbarhäfen laufen die Getreideexporte der Ukraine. Deshalb wird die Küste immer wieder von Russland attackiert.

In der ostukrainischen Großstadt Charkiw schlugen nach Medienberichten Gleitbomben ein und verletzten 17 Menschen. Mit Tagesanbruch des Donnerstags herrschte in vielen Teilen der Nord- und Zentralukraine Alarm wegen russischer Drohnen in der Luft.

Ukraine will Tomahawks zur Abschreckung

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bestätigte einen Bericht der „New York Times“, wonach er die USA um Marschflugkörper vom Typ Tomahawk zur künftigen Abschreckung Russlands gebeten habe. So stehe es im geheimen Anhang seines „Siegesplans“, den er jüngst in Washington präsentiert hatte, sagte er vor Journalisten in der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Zu seinem Plan gehört eine Aufrüstung der Ukraine, um Russland von Aggressionen abzuschrecken.

Selenskyj zeigte sich enttäuscht und wertete das Durchsickern der Informationen als Vertrauensbruch. „Wie soll man diese Nachricht verstehen? Das heißt also, dass es zwischen Partnern keine vertraulichen Informationen gibt“, stellte er fest. Tomahawks haben eine maximale Reichweite von gut 2.400 Kilometern und können damit theoretisch von ukrainischem Boden aus russische Großstädte wie St. Petersburg, Moskau und sogar Jekaterinburg im Ural erreichen.

Die Ukraine rechne bald mit einem weiteren Treffen ihrer militärischen Unterstützerländer in der sogenannten Ramstein-Gruppe, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. Details oder ein Datum nannte er nicht. Ein Treffen auf dem US-Militärstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz hätte eigentlich Mitte Oktober als Gipfel mit dem US-Präsidenten stattfinden sollen. Joe Biden sagte aber wegen eines Wirbelsturms in den USA ab. Später holte er zwar seinen Besuch in Deutschland nach, nicht aber das Ramstein-Treffen. (dpa)