Wer glaubte, mit dem Wind-an-Land-Gesetz werde auch im Freistaat der Ausbau der Windkraft einfacher, irrt. Bayerns neue Bauordnung setzt zunächst auf eben jenes Mittel, das ab Juni 2023 das Bundesgesetz verbietet.
Bei der Reform der Windkraftgesetze droht Bayern in den kommenden Monaten ein vorübergehendes Regelungschaos. Der Entwurf der Staatsregierung für die neue Bayerische Bauordnung sieht für den Bau der dringend benötigten Windräder in den sogenannten Vorranggebieten für Windkraft zwischenzeitlich eine zusätzliche Hürde mit einem Mindestabstand von 1000 Metern zur nächsten Wohnbebauung vor, bis dann ab dem 1. Juni 2023 das von der Ampel-Regierung im Bund beschlossene Wind-an-Land-Gesetz jegliche Mindestabstände untersagt.
„Bei den bayerischen Windenergieregeln geht es darum, einen Ausgleich zwischen dem Ausbau der erneuerbaren Energien und dem Schutz von Natur- und Landschaftsbild zu finden und dabei auch die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen“, rechtfertigte Bauminister Christian Bernreiter (CSU) seinen Gesetzentwurf, der wohl im Herbst in die parlamentarische Beratung gehen wird. Frühestens im Winter 2022 oder Anfang 2023 dürfte das Gesetz dann in Kraft treten und mit ihm besagte mehrmonatige Zwischenregel für die für den Windkraftausbau entscheidenden Vorranggebiete – bis 2030 müssen dies 1,8 Prozent der Landesfläche sein.
Wer sich mit dem Gesetzentwurf beschäftigt, fragt sich recht schnell, warum in den Paragrafen zwar in Summe sechs Ausnahmebestände für einen vereinfachten Bau von Windrädern definiert werden, ausgerechnet in den Wind-Vorranggebieten aber für einige Monate ein Mindestabstand gelten soll. Zu den Orten, an denen die 10H-Regel gegen die 1000 Meter Abstandsregel getauscht wird, zählen etwa Autobahnen, Wälder, Gewerbegebiete oder Gegenden, in denen Windräder stehen.
„Mit unserem Gesetzentwurf halten wir zwar grundsätzlich an der bestehenden Abstandsregel fest, entwickeln sie aber so weiter, dass mehr geeignete Flächen für die Windkraft zur Verfügung stehen“, betonte Bernreiter. Er ist sich sicher, dass die Zwischenregel für die Vorranggebiete den Windradbau insgesamt beflügeln wird. „Wir nutzen dabei den Spielraum, den das Gesetz der Ampel den Ländern einräumt, größtmöglich im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger aus und begrenzen die Fälle, für die das Bundesgesetz ab Juni nächsten Jahres keine Möglichkeit mehr für Mindestabstände vorsieht, auf das mögliche Minimum.“
Gleichzeitig vereinfache die neue Bauordnung das Prozedere und beschleunige so die Genehmigung von neuen Windkraftanlagen. „Insgesamt setzen wir also die Vorgabe des Bundes um, bringen aber die nötige Vernunft mit ein. Damit bauen wir die bundesweite Führungsrolle Bayerns beim Ausbau von erneuerbaren Energien weiter aus und sorgen gleichzeitig für die nötige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern“, sagte Bernreiter. Die Ampel-Regierung setze bei der Windkraft auf die Brechstange.
Technisch begründet das Bauministerium das Vorgehen wie folgt: Entfiele hier der bauplanungsrechtliche Mindestabstand gänzlich, träte an seine Stelle der immissionsschutzrechtliche Mindestabstand, der je nach Einzelfall deutlich unter 1000 Meter betragen könnte. Experten gehen je nach Lärmentwicklung und Schattenwurf der Rotoren davon aus, dass er bei 700 bis 800 Metern liege, so ein Sprecher.
Weiter: Dies berge nicht nur großes Konfliktpotenzial in der Bevölkerung, sondern bedürfe auch einer komplexen und zeitaufwendigen Berechnungsmethodik zur Ermittlung des jeweils erforderlichen immissionsschutzrechtlichen Abstands. In der Folge würden Genehmigungsverfahren nicht verkürzt, sondern noch aufwendiger. Dagegen sei die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einem Mindestabstand von 1000 Metern zu Konflikten wegen Lärm und Schattenwurf komme, deutlich geringer.
Der energiepolitische Sprecher der Landtags-Grünen, Martin Stümpfig, nennt das Vorgehen „verantwortungslos“. Wieder gehe wertvolle Zeit verloren. „Anstatt den enormen Aufholbedarf beim Windkraftausbau in Bayern jetzt endlich tatkräftig anzugehen, baut die Staatsregierung erstmal wieder neue Hürden ein.“ Das Ganze werde immer komplizierter – niemand wisse mehr, was wann gelte. „Die Staatsregierung hat sich komplett in ihren unsinnigen Regelungen verirrt.“
Aus seiner eigenen Arbeit in einer Genehmigungsbehörde wisse er, dass ein solches Vorgehen „Gift“ für den Genehmigungsprozess sei. „Es ist der reinste Hohn, dass das Ministerium auch noch behauptet, dass die vorgesehenen Änderungen den Genehmigungsprozess erleichtern sollen. So ein Quatsch.“ In der Praxis würden alle Projektierer vielmehr die 10H-Galgenfrist abwarten und erst loslegen, wenn diese Mitte 2023 zumindest in den Windgebieten wegfalle. „Ich ärgere mich maßlos, dass die Staatsregierung es nicht einmal in dieser Energiekrise schafft, jetzt anzupacken und tatkräftig den Windkraftausbau voranzubringen.“
Wie dringend der Ausbau der Windkraft in Bayern auch angesichts der Energiekrise einen neuen Anschub braucht, belegen Zahlen des Wirtschaftsministeriums: 2021 wurde landesweit kein einziger Genehmigungsantrag für eine Windkraftanlage gestellt. Die Jahre zuvor waren es zwischen drei und acht Anträge auf Genehmigung. In Betrieb gingen 2021 nur acht Anlagen. Und im ersten Halbjahr 2022 waren es gerade einmal drei Anlagen in ganz Bayern. (dpa/lby)